Näher als Malle, aber wenig bekannt: Die russische Hälfte der Kurischen Nehrung

Mai 2012

So ließ ich mich auf eine Reise in das Ungewisse ein: Königsberg, Tilsit, Rauschen, Karkeln, die Kurische Nehrung und Umgebung zu besuchen. Fremderweise erfasste mich dort ein Gefühl des Erkennens, auch war ich noch nie hier gewesen. Ich sah dieselben Häuser, ging durch dieselben Strassen, badete in der Ostsee, suchte am Strand nach kleinen Bernsteinstücken, fuhr durch wunderbare Alleen und ließ mir den Wind auf den großen Dünen der Kurischen Nehrung um die Nase wehen. Voll Traurigkeit sah ich die Kirchen, zweckentfremdet, ihrer Ausstrahlung beraubt. Und doch, jedes noch erhaltene Gebäude gibt auch wieder Hoffnung auf Besinnung. Heimat, das ist da, wo unsere Seele ihre Ruhe findet. Vielleicht sitzt es doch verankert in unseren Genen, nennen wir es auch Herz. Zaghaft, kaum sichtbar, fühle ich nun auch bei mir eine kleine Wandern muss nicht immer im Gebirge sein. Wer einsame Strände und Wälder mag, ist etwa auf der Kurischen Nehrung gut aufgehoben, die seit 1987 ihrer einmaligen Landschaft wegen Nationalpark ist. Der litauische Teil endet auf der Großen Düne in Nida, von wo aus man neugierig nach Russland hinüberäugen kann. Wem das Äugen nicht reicht, dem sei ein Besuch empfohlen.

In der Kaiserzeit genoss die bessere Gesellschaft ihre Sommerfrische gern in den ostpreußischen Seebädern, brauchte doch die Preußische Ostbahn von Berlin bis Königsberg (heute Kaliningrad) nur acht Stunden. Seit etwa 1890 begeisterten sich Maler wie Lovis Corinth und Max Pechstein für die Kurische Nehrung mit ihrem hohen Himmel und den ständig wechselnden Farben der See. Thomas Mann lernte die Nehrung 1929 kennen und baute sich in Nida ein Sommerhaus, das heute ein Kulturzentrum ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel der Norden Ostpreußens an die Sowjetunion und blieb als militärische Sperrzone für Ausländer bis zum Ende des Kalten Krieges verschlossen. Nun liegt die Wende über 20 Jahre zurück, aber das ehemalige Ostpreußen liegt „gefühlt“ immer noch in weiter Ferne. Kurzer Blick auf die Europakarte: Von München nach Mallorca (Luftlinie 1160 km) ist es deutlich weiter als nach Kaliningrad (960 km), und von Berlin aus ist es nahezu gleich weit nach Ulm (518 km) und Kaliningrad (528 km).

Die gesamte Kurische Nehrung erlaubt ein besonders umweltfreundliches Reisen, da man weder Flugzeug noch PKW benutzen muss. Eine gemütliche Fähre legt abends in Sassnitz auf Rügen ab, woraufhin ohne Flughafenstress der Urlaub beginnt und man nach einer sanft schaukelnden Nacht und einigen faulen Stunden an Deck nachmittags entspannt im Fährhafen Klaipeda ankommt. Dann fährt man in die Stadt (Taxi oder ein freundlicher Mitreisender) und setzt mit der Stadtfähre nach Smiltyne am nördlichen Ende der Nehrung über. Von dort fährt vier Mal täglich ein grenzüberschreitender Bus über Nida und Rybachy bis Kaliningrad (bis Nida fährt eine litauische Buslinie häufiger, in der Hauptsaison fast stündlich). Bis Nida führt auch ein gut ausgebauter Radweg landschaftlich reizvoll über die gesamte Nehrung, in Russland fehlt (bisher) einer, man muss also auf der recht schmalen Straße radeln.

Wer nicht selbst organisieren will, lässt sich von einem Reisebüro die Unterkünfte buchen und das Visum beschaffen. Persönlich kann ich das auf Ostpreußen und Baltikum spezialisierte Adebar Reiseteam (http://www.nordostpreussen-und-baltikum-reisen.de/) sehr empfehlen. Die für mich ausgesuchten Hotels Altrimo (in Rybachy direkt am Haff) und Terrasa (in Lesnoje 150m vom Meer) sind beide sehr gut ausgestattet und liegen ohne Durchgangsverkehr ruhig am Ende einer Straße. (Sie müssten nur noch lernen, dass westeuropäische Gäste beim Essen im Restaurant kein lautstarkes Fernsehen brauchen.) In beiden Orten gibt es mehrere Läden, in denen man Proviant für unterwegs einkaufen kann. Auch die Ein- und Ausreise ist problemlos. Für den Linienbus dauern die Grenzformalitäten rund eine Stunde, einige Beamte sprechen Deutsch. Überhaupt kommt man auch ohne russische Sprachkenntnisse gut zurecht, ein kleines Wörterbuch wie das der empfehlenswerten Kauderwelsch-Serie reicht durchaus. Junge Leute sprechen oft etwas Englisch, alte manchmal etwas Deutsch. Manche Begegnungen waren durchaus malerisch, so die alte Dame, die einen Morgenspaziergang zusammen mit ihrer Hühnerschar machte, und der alte Herr, der mit einem Moped seine drei Rinder auf die Weide trieb.

Bezüglich der Wohnverhältnisse ist der Abstand zwischen Arm und Reich weit größer als bei uns. Einerseits gibt es ärmliche Holzhütten, deren Bewohner offenbar zu einem großen Teil vom Fischfang und von ihren Gärtchen leben. Andererseits hat man vor allem in Lesnoje etliche protzige Villen ans Haff gebaut, die mit hohen Mauern und Videokameras festungsartig abgeriegelt sind. Das Ärgerlichste daran ist, dass wegen dieser Privatgrundstücke nirgendwo der Bau einer Uferpromenade möglich ist, wie sie etwa in Nida von Touristen geschätzt wird. Überall zu bewundern ist die Kreativität und Geschicklichkeit, mit der das Vorhandene genutzt wird. So sah ich eine ausgebaute PKW-Rückbank, die nun an starken Seilen als Hollywoodschaukel in einem Baum hängt, und zahllose halbierte Plastikflaschen als Gewächshäuschen für junge Pflanzen.

Als ich Mitte April 2012 in Rybachy/Rossitten ankam, war noch Nebensaison und an den Stränden traf man nur russische Angler. Im Ort bzw. in seiner Nähe kann man die berühmte Vogelwarte, den alten deutschen Friedhof, das Sumpfgebiet „Möwenbruch“ und den „Tanzenden Wald“ mit skurril verbogenen Baumstämmen besichtigen. Ein Strandabschnitt mit besonders festem Sand führt rund 10km nach Norden, wo man zur wunderschönen Epha-Düne an der Haffseite aufsteigen kann. Drei weitere Tage war ich in Lesnoje/Sarkau, wo das Strandcafé zu stundenlangem Verweilen bei gutem Essen einlädt, man probiere etwa den üppigen „Cranz-Strudel“. Jeweils einige Kilometer entfernt liegen der „Königswald“ mit einem ökologischen Rundweg und das informative Nationalparkmuseum. Der Frühling auf der Nehrung hat viele Sonnenstunden, zwischendurch kann es jedoch heftige Schauer geben, auf die ein leuchtender Regenbogen folgt. Ideale Tage beginnen am Haff, wenn die aufgehende Sonne langsam durch den Nebel dringt, und enden an der Ostsee mit einem farbenprächtigen Sonnenuntergang. Wer auf einem Nachtspaziergang den beeindruckenden Sternenhimmel bestaunen will, wird schnell feststellen, dass jedes Haus einen pflichtbewussten Wachhund hat und das Gebell das ganze Dorf aufweckt.

Westeuropäer, die zu Hause über Schilderwälder klagen, finden hier das Gegenteil, nämlich Orte ohne Ortsplan und Bushaltestellen ohne Fahrplan. Es gilt also, sich zu Hause die durchaus vorhandenen Informationen aus dem Internet auszudrucken, sehr empfehlenswert ist die Adresse , unter der man Fahr- und Ortspläne, Wandervorschläge und Wissenswertes über Kultur, Geschichte und Natur findet. Um bestimmte Orte anzusteuern, orientiert man sich am besten anhand der Kilometersteine der Straße, die auch auf der Karte verzeichnet sind.

Die gesamte Nehrung ist ein ideales Reiseziel für Naturliebhaber, die keine „Events“ und künstlichen Anreicherungen der Landschaft brauchen. Ich sah öfters Seeadler, Kraniche, Kormorane und Kolkraben, und in den Dünen blühten die ersten wilden Stiefmütterchen. Am Abend knabberte ein dicker Biber frische saftige Binsen am Haffufer, während Fledermäuse am Himmel zickzackten. Die zahlreichen Nebelkrähen fressen gestrandete Fische und die Überreste von Picknicks und scheinen zu wissen, dass sie nicht mehr wie früher gern gegessen bzw. als „Hafftauben“ an die Hotels verkauft werden. Nur der Elch blieb verborgen, hatte aber an vielen Stellen riesige Trittsiegel hinterlassen.

Die Nehrung ist auch ein Paradebeispiel dafür, wie widersprüchlich unser Begriff von Natur ist. Nachdem die Nehrung vor etwa 7.000 Jahren durch Sandanspülungen entstanden war, wuchs sie bald zu und blieb durch viele Jahrhunderte lange dicht bewaldet, denn den frühesten Bewohnern waren die Bäume heilig. Erst ab dem Mittelalter holzten zunächst die Angehörigen des Deutschen Ordens, später die Armeen des Siebenjährigen Krieges sowie Kolonisten die Wälder ab. Sobald die Bäume weitgehend verschwunden waren, bildeten sich riesige Wanderdünen, die bis zu drei Meter im Jahr vorrückten und zahlreiche Dörfer unter sich begruben. Ab etwa 1800 versuchte man, das Vorrücken der Dünen durch Errichtung einer Vordüne aufzuhalten. Dieses Projekt „versandete“ durch Geldmangel und den Widerstand der Bauern, denen man ihre bescheidene Viehhaltung verbieten wollte. Als der Sand schließlich auch die Fischerei im Haff und die Poststraße bedrohte, beauftragte Preußen 1870 den Düneninspektor Wilhelm Franz Epha mit neuen umfassenden Sicherungsarbeiten. Um die kahlen Dünen aufzuforsten, mussten sehr mühsam Kiefern und andere geeignete Bäume innerhalb von eng geflochtenen Zäunen mit Ballen angepflanzt werden. Diese Maßnahmen waren so erfolgreich, dass die Nehrung heute wieder weitgehend bewaldet ist und die Bewohner des geretteten Dorfes Morskoje/Pillkoppen die zum Stillstand gebrachte Wanderdüne südlich des Ortes „Epha-Düne“ nannten. Es verblieben lediglich einige große Dünen auf beiden Seiten der Grenze, die zu den beliebtesten Touristenzielen zählen. Über sie lässt sich trefflich streiten: Soll man sie zuwachsen lassen, weil dies ein natürlicher Prozess ist? Oder soll man sie durch Rodung künstlich offenhalten, weil sonst die spektakulären Anblicke verschwinden, die schon die Sommerfrischler des 19. Jahrhunderts priesen? Gewiss wird man sie offenhalten, nur sollte man auf den bis zu 60 Meter hohen Dünen daran denken, dass man (ebenso wie bei Almen und Heidegebieten) eine von Menschen verursachte Sekundärnatur vor Augen hat, deren Reiz im Aufeinanderprallen von Freiflächen und der umgebenden dichten Vegetation liegt.