Meine Reise nach Tilsit/Sovetsk 2008

Traute Englert, Tilsit

 

Wenn es nach mir ginge, würde ich in jedem Jahr meine Geburtsstadt besuchen. Aber manchmal klappt das eben nicht so wie man möchte. In diesem Jahr aber ist mein Reisewunsch endlich wieder mal in Erfüllung gegangen. Vier Personen waren wir, meine zwei Neffen, meine angeheiratete Nichte und ich. Altersmäßig passen wir ganz gut zusammen und gesundheitlich fühlten wir uns auch alle wohl. Mit guter Laune im Gepäck stiegen wir in Hannover ins Flugzeug, das pünktlich um 19:35 Uhr startete. Es war das erste Mal, dass ich mich ins Flugzeug getraut habe und ich muss sagen, mein mulmiges Gefühl vor dem Flug war sofort wie weggewischt.

Nicht einmal eine Stunde dauerte die Reise über den Wolken, da setzte das Flugzeug auch schon zur Landung in Kaliningrad an. Ich bedauerte das ein wenig. Mir ging das alles wieder einmal viel zu schnell.

Unser russischer Reiseleiter, Eduard Politiko vom Adebar-Reiseteam, musste einige Zeit im Foyer des Flughafens warten, bis wir ihn endlich begrüßen konnten. Kontaktschwierigkeiten mit Eduard kann es überhaupt nie geben. Das jedenfalls behaupte ich, die ich ihn ja schon einige Jahre kenne. Auch meine Mitreisenden, Karlheinz, Monika und Klaus waren mit ihm schnell per „Du“. Voll Unternehmungslust gingen wir zusammen zum Parkplatz, wo der Kleinbus stand, mit dem Eduard uns nach Tilsit brachte.

Es war schon gegen zwölf Uhr nachts, als wir in Tilsit ankamen. Eduard brachte uns ins Hotel Rossija. Schnell waren die nötigen Formalitäten an der Rezeption erledigt. Der Aufzug brachte uns zu unseren Zimmern. Ein freundschaftliches „Gute Nacht“ und wir nahmen uns Zeit, vor dem Schlafengehen noch ein bisschen in unsere Zimmer umzusehen.

Das neue Hotel Rossija, vor zwei Jahren an einen neuen Besitzer übergegangen, kann sich sehen lassen. Es erinnert nicht ein bisschen mehr an das alte doch ziemlich armselige Hotel. Jetzt kann es, ohne Übertreibung, mit seinen verdienten vier Sternen glänzen, in dem sich alle Gäste, außer den ewig nörgelnden, wohl fühlen. Das Haus ist von Grund auf renoviert. Nichts, aber auch gar nichts erinnert mehr an das vorherige. Buchstäblich vom Fußboden bis zur Decke einschließlich der Treppen ist alles vollkommen neu und geschmackvoll gestaltet. Auch entsprechende Räume für Konferenzen stehen zur Verfügung. Und ich habe mir sagen lassen, dass es demnächst auch ein Frisörsalon, Sauna und dergleichen mehr für das körperliche Wohlbefinden geben wird. In jedes unserer Zimmer war eine Dusche mit Toilette, so praktisch, sauber und in Ordnung wie man das von unseren westlichen Hotels gewöhnt ist. Die Zimmer waren alle mit Telefon, Fernseher, Kühlschrank gefüllt mit allerlei Getränke und Knabberzeug sowie Klimaanlage ausgerüstet. Das Bett neu und genau so ansprechend hergerichtet. Alles in allem, alles bestens.

Nach einem erholsamen Schlaf fanden wir vier uns am anderen Morgen zum Frühstück im Restaurant des Hotels ein. Die rote Farbe hat hier bei der Gestaltung des Raumes Vorrang. Für mich, die ich diese Farbe über alles liebe, konnte das nur ein voller Genuss sein.

Das Frühstück konnte man sich, wie in westlichen Hotels auf übliche Weise selbst zusammenstellen. Mit der jungen, anfangs schüchternen Frühstücksserviererin, die sicher bei uns ihr Debüt gab und darauf achtete, dass uns ja an nichts fehlte, freundeten wir uns schnell an. Wir waren alle vier so angetan von ihrer Art, dass ihr jeder von uns am letzten Frühstückstag nur zu gern gleich einen Geldschein in die Hand drückte. Das glücklich, strahlende Gesicht, dass sie uns dabei schenkte, machte auch uns glücklich.

In diesem Restaurant kann man nicht nur frühstücken, sondern auch zu Mittag und Abend essen. Wir waren neugierig und wollten erst probieren, obwohl Eduard bereits versichert hatte, dass er das Essen dieses Restaurants mit gutem Gewissen empfehlen kann. Er hatte mal wieder recht wie immer. Wir haben nach dem ersten Mahl nur noch dort zu Abend gegessen. Freundliche, hilfsbereite Bedienung, sehr umfangreiche Speisekarte in Deutsch und Russisch voller schmackhaften Angeboten, für jeden verwöhnten Gaumen etwas… und dazu um einen herum eine gemütliche Atmosphäre.

Ich hatte mit Galina, der ehemaligen Deutschlehrerin an meiner alten Tilsiter Schule bereits vor längerer Zeit enge Freundschaft geschlossen, hat sie doch schon unglaublich viel für mich getan. Längst hatte ich ihr mein Buch „Fluch der Mönche“ per Post gesandt. Sie war so begeistert, endlich so viel Interessantes über Tilsit zu erfahren, dass sie gleich zu mir sagte: ‚Du kannst sicher sein, das bleibt nicht im Bücherschrank liegen. Ich mache es sofort in allen Schulen bei uns bekannt.’ Sie hat Wort gehalten und hat es sogar schon übersetzt. Ihre Freundin Swetlana, Geschichtslehrerin an der ehemaligen Meerwischer Schule, rührt fleißig mit in der Reklametrommel.

Auch mit Eduard verbindet mich inzwischen eine stille Freundschaft. Menschen, bei denen die gegenseitige Chemie stimmt, brauchen keine Worte dazu. Um diesen lieben Menschen meine Dankbarkeit zu zeigen, lud ich sie am ersten Tag in Tilsit zu einem Essen ein. Natürlich auch meine Verwandten (Klaus habe ich nach 62 Jahren erst wieder gesehen) Ich überließ Eduard die Wahl des Lokals. Er, zu Hause in Ragnit, kennt sich in Tilsit bewundernswert gut aus. Jedes Lokal wo man gut essen kann, jede Straße die man vergeblich sucht, wo es was Interessantes zu erleben gibt usw.: Nicht verzagen, Eduard fragen. Natürlich führte er uns in das beste Lokal. Er weiß schließlich, was mir gefällt. Wir haben gelacht und gegessen, Kaffee, gemütlich draußen in einer anderen Raststätte, getrunken und so ging der 1. Tag schnell vorbei.

Ich muss sagen. Tilsit hat inzwischen wunderschöne Lokale, wo es sich lohnt einzukehren. Auch sonst ist mir aufgefallen, dass sich zwischen dem letzten Besuch vor drei Jahren und heute in Tilsit sehr viel verändert hat. Jeden Morgen, wenn ich aus dem Fenster des Hotels sah, fielen mir die kleinen Busse auf, die in Abständen an der Haltestelle gegenüber hielten und die Menschen mitnahmen, die zur Arbeit fuhren. Ein Straßenkehrer sorgte täglich akribisch für die tadellose Sauberkeit rund ums Hotel. Einmal fuhr auch ein Reinigungsauto durch die Straßen. Weiter erfreuten mich die gepflegten Blumenbeete, die so manche Straßen und Plätze schmückten. Allerdings, sind die Straßen leider immer noch im erbarmungswürdigen Zustand. Man muss sehr aufpassen, dass man beim Spazieren gehen nicht stolpert. Ich war kurz unvorsichtig und schon lag ich auf der Straße. Gottlob habe ich noch ostpreußische Knochen vom alten Schlag. Die macht so leicht kein miserables Straßenpflaster kaputt.

Wir wollten möglichst viel von dem Leben der Menschen dort erfahren. Also besuchten wir auch einen Supermarkt. Er liegt in der Clausiusstraße, kurz vor der Lindenstraße. Vor dem Laden fiel mir auf, dass sich auch hier Straßenmusikanten mit ihren flotten Weisen ein paar Scherflein verdienen wollen. Ein Bild wie bei uns. Als wir dann den Laden betraten, staunten wir nicht schlecht. Wir fühlten uns sofort in einem unserer Supermärkte versetzt. Wir hätten ihn blind durchlaufen können. Und alles gibt es dort zu kaufen. Genauso wie bei uns. Alle Lebensmittel, die auch uns täglich im Supermarkt zum Kauf animieren, stehen in den Regalen zuhauf. Sogar Whyskas für die Katzen und Hundefutter stehen selbstverständlich bereit. Und überwiegend Deutsche Fabrikate. Auch Kosmetik und Textilien, die gleiche Ware wie bei uns. Die Preise sind allerdings etwas günstiger als in Deutschland und als wir feststellten, dass das Obst und Gemüse sogar um zwei Drittel billiger war als bei uns, überlegte ich ernsthaft, ob ich nicht nach Tilsit ziehen sollte?

Was gab es sonst noch Interessantes zu sehen? Entfernt man sich bei seinem Spaziergang von der Innenstadt mehr zum Stadtrand hin, legt sich Trauer und Bedrückung aufs Herz. Hier ist der Zerfall der Häuser bestimmt nicht mehr aufzuhalten. Wir wunderten uns, dass da drin überhaupt noch Leute wohnen können, Eduard meinte dazu, das täuscht, drinnen würde alles fabelhaft und neu her hergerichtet sein. Wir fragen uns noch heute zweifelnd, ob wir ihm das glauben sollen.

Meine beiden männlichen Begleiter waren immer total beschäftigt. Klaus machte den Eindruck, als könnte er sich nicht satt sehen an seine alte Geburtsstadt Tilsit, die er mit fünf Jahren verlassen musste. Er sagte immer wieder zu mir: „Du behauptest immer, unser Tilsit gibt es nicht mehr. Schau, die alten Grundmauern stehen doch alle noch. Man braucht die Häuser nur wieder ordentlich aufzubauen. Ich muss unbedingt noch mal hin und mir alles genau ansehen.“

Karlheinz dagegen (seine Eltern aus Tilsit, er in Königsberg geboren), fotografierte eifrig alles, was ihm vor die Kamera kam. Über 650 Bilder hat er von unserer Reise gemacht. Stolz hat er sie zu Hause auf eine CD-Rom kopiert und uns dann damit beglückt.

Ich bin davon überzeugt, dass die Stadtverwaltung von Sovetsk sich sehr bemüht, ihrer Stadt ein gutes Bild zu schaffen sowie die noch wenigen Erinnerungen an Tilsit zu erhalten. Aber es dauert eben alles seine Zeit, obwohl wiederum Klaus zu mir sagte: „Ich habe von den Leuten hier den Eindruck bekommen als säßen sie alle auf ihrem Koffer, und warteten auf ihre Weiterreise.“

Was soll ich noch sagen? Ich könnte noch so manches Erlebnis erzählen. 20 Seiten lassen sich leicht damit füllen. Ich würde aber erst mal vorschlagen, selbst hinzufahren und seine eigenen Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Mich jedenfalls zieht es immer wieder in die Stadt wo ich geboren bin. Uns vier Tilsiter Touristen sind ausnahmslos nur freundliche Menschen begegnet. Sie haben nichts, aber auch gar nichts mit unserer Flucht zu tun. Sie sind auch nur ein Opfer des Krieges geworden und warten auf unsere Freundschaft.